Teil II........Es gibt viel zu lernen

Ins Deutsche übersetzt von Amy

 

Die nächsten paar Wochen, bevor die Schule wieder begann, blieb Danielle zu Hause und war immer in meiner Nähe. Es war, als sei sie auf einmal wieder ein kleines Kind und völlig auf mich angewiesen. Sie wollte in meiner Nähe sitzen, in meinem Zimmer schlafen und immer bei mir sein. Sie brauchte eine Menge Zärtlichkeit und häufige Bestätigung. Wie konnte ein Kind in dieser Lage überleben, wenn niemand es umarmte? Etwa einen Monat später jedoch war sie wieder die selbständige Jugendliche, die sie gewesen war.

Einige Transsexuelle bei Neutral Corner empfahlen uns als Therapeuten Mr. Hunter, der angeblich der beste in der Umgebung sei. Bei Danielles erstem Termin ging ich mit, da ich meine neue Tochter nicht einem Fremden überantworten wollte, der ihr vielleicht einreden würde, daß sie geisteskrank sei, um dann eine Therapie zu empfehlen, oder der einen Keil zwischen uns treiben würde. Danielle trug sehr feminine Kleidung, aber sie war immer noch in ihrer schrillen Phase -- eng, kurz, auffällig -- übertrieben zwar, aber niedlich. Der Therapeut unterhielt sich mit uns ein wenig über unsere Situation, aber vor allem erzählte er von seinen Erfahrungen. Er fragte nach, ob Danielle ein Kindheitstrauma erlebt hätte, denn er gab an, Untersuchungen angestellt zu haben, die seine These bewiesen, daß Transsexualität durch Traumata in einem Lebensalter von unter 31 Monaten verursacht sein könnte. Als Daniel ein Jahr alt war, geschah die Überschwemmung und ich dachte, daß seine Sprachfähigkeiten beeinträchtigt worden waren. Er sagte überhaupt nichts mehr, sondern lächelte, weinte und zeigte nur, bis er drei Jahre alt war. Ob dies nun seine jetzige Situation ausgelöst hatte, war zu jenem Zeitpunkt längst irrelevant, und ich wollte wissen, was ich jetzt konkret tun konnte.

Mr. Hunter gab uns ein Formular zur persönlichen Vorgeschichte zum Ausfüllen, das wir ihm zurückschicken sollten, einschließlich 150 Dollar Honorar. Er wies uns darauf hin, daß er das Formular nicht persönlich auswerten würde. Für weitere psychologische Tests würden später 700 Dollar anfallen, aber wir sollten uns darüber jetzt noch keine Sorgen machen. Nach dem Gespräch sagte er uns nicht, wann Danielle wiederkommen sollte. Aber er mahnte uns zur Vorsicht, denn die meisten Transsexuellen würden wohl wenigstens einmal in ihrem Leben Gewaltopfer, wenn potentielle Liebhaber von ihrer Vergangenheit erführen.

Es stellte sich heraus, daß der Fragebogen sich zum größten Teil auf erwachsenenspezifische Themen wie Beziehung, Kinder, Sexualleben und Arbeit bezog. Nur ein kleiner Teil behandelte die Familiengeschichte, das Erwachsenwerden und die Schule. Diesen füllten wir aus und schickten das Formular einschließlich des Honorars zurück. Wer diesen Fragebogen nun eigentlich auswertete, erfuhren wir nie. Mr. Hunter rief einen Monat später an und überwies uns an einen Endokrinologen.

Der Sommer ging zu Ende und wir mußten uns darüber Gedanken machen, was wir tun konnten, damit Danielle möglichst reibungslos wieder die Schule besuchen konnte. Für mich stand fest, daß es besser für sie wäre, wenn sie die Schule wechselte. Ich hatte mittlerweile einige Erfahrung darin, wie man einer bestimmten Schule im Bezirk zugeteilt werden konnte. Am sichersten war es, in die Nähe der Schule zu ziehen. Wenigstens zwei Schulen hatten aber Wartelisten und nahmen keine Schüler aus ihrer eigenen Umgebung an, aber wenn man einer Ethnie angehörte, die an einer bestimmten Schule unterrepräsentiert war, hatte man gute Chancen, auch einen weiteren Schulweg mit dem Bus genehmigt zu bekommen. Zweimal hatte ich dieses Spielchen schon mit den älteren Jungs betrieben. Da meine Kinder zur einen Hälfte Latinos und zur anderen ein europäisches Völkergemisch sind, konnte ich mich je nach Situation entscheiden. Einige Male wich ich auch derartigen Angaben aus, da es eine Entweder-Oder-Entscheidung war. Ein Schüler konnte nicht "gemischt" oder gar nur "amerikanisch" angeben, obwohl diese Aussagen ja zweifellos zutrafen.

Danielles Sicherheit an der Schule hatte für mich oberste Priorität. Als ich Mr. Hunter darauf ansprach, gab er mir den Rat, die Schuldirektoren vorab anzurufen und die Situation zu erklären. Wenn sich der Direktor entgegenkommend verhielte, sollte ich Danielle in dieser Schule anmelden.

Diesen Rat umzusetzen war jedoch nicht einfach, da die Sekretariate während der Ferien nicht besetzt waren. Das meiste Personal war noch in Urlaub und würde erst kurz vor Schulbeginn zurückkehren. Die Zeit war knapp, und wenn wir noch umziehen müßten, hätte ich das gerne so schnell wie möglich gewußt.

Ich entschied mich schließlich, die Hierarchie von oben anzugehen und rief in der Geschäftsstelle der Schulbezirksverwaltung an. Dort gab es eine Reihe von gutgemeinten Kommissionen, die sich die Steigerung des Wohlbefindens und des Selbstwertgefühls der Schüler und die Chancengleichheit zwischen den Schülern auf die Fahnen geschrieben hatten, also glaubte ich, daß sich auch jemand für Danielles Wohl verantwortlich fühlen würde. Nachdem man mich von Abteilung zu Abteilung weiterverbunden hatte, stellte man fest, daß der zuständige Sachbearbeiter wohl gerade verreist war. Schließlich wurde ich mit einer gewissen Ellen verbunden.

"Welche Richtlinien gelten denn in unserem Schulbezirk für die Behandlung transsexueller Schüler?" fragte ich.

Nach einigen Fragen ihrerseits wurde mein Anruf in die Warteschleife gestellt, während sie mit ihrem Vorgesetzten sprach. Als sie wieder abnahm, sagte sie mir: "Die Richtlinie ist, daß wir niemanden bevor- oder benachteiligen".

"Das hilft mir nicht viel weiter".

Sie wiederholte: "Ich kann nur sagen, daß wir niemanden bevor- oder benachteiligen können". Es klang, als wollte sie eigentlich mehr sagen.

Voller Wut und Frustration legte ich mit Tränen in den Augen auf. Wenn niemand bevor- oder benachteiligt werden konnte, konnte man mein "Mädchen" entweder zu den Mädels oder den Jungs in den Sportunterricht stecken und man konnte sich nicht einmal dagegen beschweren. Vielleicht würden sie sie sogar gar nicht im Sportunterricht haben wollen, wenn sich jemand mit dem Fall befaßte. Ich war bereit, noch ein paar Tage zu warten, bis der Sachbearbeiter, der angeblich mehr über die Behandlung ungewöhnlicher Schüler wußte, aus dem Urlaub zurück war.

Nach vielen weiteren Anrufen und einer großen Menge Frustration konnte ich schließlich einen Termin mit einem Schulbeamten vereinbaren, um die Lage zu besprechen. Ich erhoffte mir davon nicht viel, da ich mich mit diesem Herrn bereits einmal ob der ethnischen Zugehörigkeit meiner Kinder angelegt hatte. Vor ein paar Jahren sagte er mir, daß die Schulbezirksverwaltung mir einen Prozeß an den Hals hängen würde, in dem die Ethnizität meiner Kinder festgesetzt werden sollte, da ich die Angabe verweigerte. Diese Drohung machte er nicht wahr und daher hatte ich Grund zu hoffen, daß er sich nicht mehr an diesen Streit erinnerte.

 

 

Die Richtlinie ist, daß wir niemanden bevor- oder benachteiligen.

 

Seine Freundlichkeit und unaufgesetzte Hilfsbereitschaft überraschten mich. Offenkundig erinnerte er sich nicht an die damalige Begegnung. Ein Fall wie dieser war ihm dennoch noch nie untergekommen. Als er nachfragte, bekam er vom Rechenzentrum die Auskunft, daß der Name eines Schülers nicht geändert werden könne, wenn nicht eine geänderte Geburtsurkunde vorläge. Ich wußte, daß die Namensänderung zwar vor der Operation möglich war, nicht aber die Änderung der Geschlechtszugehörigkeit.

Er informierte mich über Alternativen zum regulären Schulbetrieb. Die eine wäre, mein Kind selbst zu unterrichten (dies ist in den Vereinigten Staaten durchaus gängig und zulässig, Anm. d. Übers.), aber das hatte ich nun gar nicht vor. Dann gab es ein Förderprogramm für Problemkinder, wo sie an ihre individuelle Geschwindigkeit angepaßt unterrichtet wurden, aber das war auch keine Lösung. Danielle war kein Problemkind und Gutes hörte man von dem Förderprogramm auch nicht. Die dritte Möglichkeit war eine sehr spezialisierte kleine Schule, die "die Dinge nicht sehr eng sähe" und sehr viel Wert auf die Eigenverantwortlichkeit der Schüler legte. Einige Schwule und Lesben, die an den regulären Schulen Probleme hatten, gingen dorthin. Im Sportunterricht durfte Straßenkleidung getragen werden. Das schien mir der sinnvollste Ort für Danielle zu sein, also füllte ich die notwendigen Formulare aus. Ich sagte ihm, daß ich baldmöglichst über die Aufnahme Bescheid wissen müßte, da ich gegebenenfalls umziehen würde, um Danielle die Busfahrten quer durch die Stadt zu ersparen. Wir gingen sehr freundlich auseinander. Zumindest einmal brach ich nicht in Tränen aus.

Ein paar Stunden später rief er mit einer schlechten Nachricht an: diese Schule hätte eine zweijährige Warteliste.

"Würden Sie auch eine andere Schule in Betracht ziehen?", fragte er.

Ich antwortete: "Wenn Sie eine Schule für mich finden können, wo Danielle sicher davor ist, ausgelacht und geschlagen zu werden und wo sie nach Möglichkeit nicht am Sportunterricht teilnehmen muß, sagen Sie Bescheid. Da die Direktoren noch nicht wieder im Dienst sind, könnte das schwierig werden".

Er entgegnete: "Mir fällt noch jemand ein, bezüglich der von Ihnen gewünschten Schule, den ich eventuell dazu bringen könnte, mit dem Direktor dort eine Sonderregelung auszuhandeln".

Die Warterei ging also weiter, und die Zeit lief davon. Anfang August hatte ich unsere Wohnung gekündigt, also mußten wir uns auch nach einer neuen umsehen.

Bei Gesprächen mit Freunden und Lehrern stellte sich heraus, daß eine ganze Menge Lehrerkinder an dieser Schule waren. Ich fragte mich, wie lange die wohl auf der Warteliste gewesen seien. Nach einer Woche war meine Geduld am Ende und ich erzählte David von der Schule, die ich für die sicherste Alternative für Danielle hielt. Mein Plan war, beim Bezirksschulamt anzufragen, wie lange jeder der Schüler auf der Warteliste gestanden habe. Bei Diskrepanzen könnte ich dann anmerken, daß offenkundig einzelne Schüler bevorzugt würden und dann lautstark auf mein Recht pochen.

David sagte: "Mutter. Mutter. Geh' jetzt einfach nochmal zum Schulamt und erzähl ihnen dort, daß du dir solche Sorgen um deine neue Tochter machst, daß du es nicht mehr ertragen kannst. Du willst nicht, daß ihr was geschieht oder daß sie sich das Leben nimmt, Du bist völlig ratlos. Diesen Vortrag garnierst du noch mit ein paar Tränen und dann sehen wir weiter."

Obwohl ich es nicht ausstehen kann, die Mitleidskarte auszuspielen, tat ich, was er sagte. Es fiel mir noch nicht einmal schwer, und es funktionierte. Die Sekretariate füllten sich wieder, ein paar Strippen wurden gezogen und am nächsten Freitag wechselte Danielle die Schule. Man empfahl mir, sie gleich unter neuem Namen anzumelden und kein weiteres Aufhebens zu machen. Der Schuldirektor wußte Bescheid und empfahl, den Schulpsychologen ebenfalls einzuweihen (in den USA ist an Schulen häufig ein Psychologe bzw. eine Krankenpflegerin eingestellt. Dies ist in Deutschland unüblich, Anm. d. Übers.). Er sagte auch, daß im vorigen Schuljahr ebenfalls eine transsexuelle Schülerin an der Schule gewesen war, und so fragte ich ihn, ob ich mit deren Eltern in Kontakt treten dürfte. Er willigte ein, ihren Eltern meine Telefonnummer zu geben und es ihnen zu überlassen, mich anzurufen. Es schien nun, als hätte doch jemand am Schulamt ein Herz gehabt.

Während Danielle ihren ersten Termin beim Endokrinologen hatte, meldete ich sie an der Schule an. Es wahren der übliche Stapel an Formularen mit den üblichen doppelt und dreifach gestellten Fragen, aber auch der Anforderung der bisherigen Schulunterlagen. Ich erzählte der Sekretärin, daß Danielle in Kanada zur Schule gegangen sei, ich aber die Adresse nicht parat hätte. Das war nur teilweise gelogen, da sie wirklich vor ein, zwei Jahren ein paar Monate in Kanada bei meinem Bruder gelebt hatte und zur Schule gegangen war. Danielle und ich hatten beschlossen, ihren Geburtstag um ein Jahr zu verlegen, so daß es nicht auffiel, wenn ihr alter und ihr neuer Name auf einem Computerausdruck erschienen. Ihren Impfpaß frisierten wir durch Hinzufügen der zwei Buchstaben zu ihrem handgeschriebenen Namen. Und diesmal brauchte ich mich auch gar nicht über Fragen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit aufzuregen.

Wir vergaßen aber, die Daten in ihrem Impfpaß zu ändern, was ein Jahr später noch erheblichen Ärger verursachen sollte, als jemand feststellte, daß sie vor ihrer Geburt geimpft worden sei. Ich berief mich darauf, daß ich wegen meiner drei Kinder durcheinandergekommen und mir ein Fehler unterlaufen sei.

Vor mir selbst rechtfertigte ich diesen Betrug, was Namen und Geschlecht anging, damit, daß die wahren Tatsachen bei ihrer Geburt ja noch nicht bekannt waren. Ich begann, die Wahrheit, wie sie sich mir darstellte, vor die objektive Wahrheit zu setzen. Manchmal tut man eben, was man tun muß. Mir war es wichtiger, sie gut unterzubringen, als den Schulbeamten und staatlichen Bürokraten korrekte Angaben zu liefern. Nachdem wir Danielle als neue Schülerin angemeldet hatten, wurden all ihre ehemaligen Schulunterlagen "zu den Akten" gelegt, wo immer das auch sein mag.

Es gab auch noch andere Gründe, sich über Danielles Schullaufbahn Sorgen zu machen, weil Daniel nie richtig mit dem Lernstoff klarkam. Schon im Kindergarten stellte sich heraus, daß er Schwierigkeiten mit Zahlen und mit Geld hatte. Er wollte Kartenspiele spielen und lernte die Regeln schnell, konnte aber, wenn die Karte mehr als sechs Punkte wert war, die Punkte nicht zählen. Im Kindergarten konnte er das Geld für sein Mittagessen nur anhand der Größe der Geldstücke auseinanderhalten: die große Münze waren 25 Cent, die mittlere 5 und die kleinste 10 Cent. Wir dachten erst, er sei farbenblind, weil er sich die Namen der Farben nicht merken konnte, obwohl er sich für Farben und Strukturen mehr interessierte als die meisten Kinder in seinem Alter, und auch häufiger darüber sprach. Wenn man ihn fragte, was ihm an dem neuen Kindergarten, den er jetzt besuchte, am meisten gefiele, sagte er: "Ich mag ihn, weil er so schöne Farben hat". An seinem ersten Schultag bemerkte er, daß jede Tür zum Schulhof in einer anderen Pastellfarbe gestrichen war.

Obwohl er versetzt wurde, ließ ich Daniel die erste Klasse wiederholen. Er hatte noch Schwierigkeiten mit den Buchstaben, aber nicht, weil er gefaulenzt hatte. Er liebte seine Lehrerin und sie ihn, und er störte nie den Unterricht. Er schien auch intelligent genug, aber wegen seiner Schwäche in bezug auf Buchstaben und Zahlen vermuteten wir eine Lernstörung. Ich ließ ihn an der Universität von einem Entwicklungspsychologen untersuchen. Das Ergebnis war negativ, er schien nur etwas unreif für sein Alter. Nachdem er die erste Klasse zum zweiten Mal durchlaufen hatte, ließen wir den Test wiederholen, mit dem gleichen Ergebnis: wenn er ein bißchen älter wäre, würde sich das alles legen.

Während seiner Schullaufbahn setzte sich diese Buchstaben- und Zahlenschwäche fort, besonders bei den Einmaleinsen. Er lernte das Sechsereinmaleins, aber sobald er auch das Siebenereinmaleins intus hatte, hatte er das Sechsereinmaleins vergessen. Ich half ihm und er bemühte sich, aber es fiel ihm immer noch schwer. Er war ein liebevoller und glücklicher Junge, also verlor ich nie die Geduld. Im Zeichnen und Werken war er sehr gut und er liebte alles, was mit Kunst und Schönheit zu tun hatte. Für Gefühle anderer war er sehr sensibel und merkte immer, wenn jemand traurig, krank oder unglücklich war. Ich hatte mal gelesen, daß diese Sensibilität für Mädchen typisch sei, die meist schon kleinste Anzeichen und minimale Veränderungen der Gesichtszüge bemerken, für einen Jungen jedoch eher ungewöhnlich. Daniel aber verwechselte Gegensatzpaare wie gestern und morgen, oder Abend und Morgen. Er verwendete beide Worte austauschbar. Er liebte es, zu kochen, und so lernte er zu lesen, so gut das Kochbuch dies eben erforderte. Aber ich glaubte nicht, daß er das Bruchrechnen jemals lernen würde, abgesehen von den Brüchen, die im Kochbuch auftauchten.

Daniels weibliches Benehmen und Verhalten fielen jedoch auch einigen Lehrern und Schulpsychologen auf.

"Ihr Sohn läuft wie ein Mädchen", bemerkte Daniels Lehrerin in der dritten Klasse. Es war mir klar, daß sie darauf anspielte, daß er beim Laufen seine Hüften bewegte. "Jedesmal, wenn die Kinder das Klassenzimmer betreten und wenn sie hinausgehen, sage ich ihm, er soll damit aufhören".

Daniels Gang war mir schon lange aufgefallen. Mir tat es nur leid, daß Daniel deswegen von seiner Lehrerin gedankenlos so schikaniert wurde. Ich entgegnete ihr: "Wenn es sein Fortkommen in der Schule nicht behindert, dann sagen Sie doch bitte einfach nichts. Lassen Sie es doch einfach dabei bewenden".

Sie konnte sich offensichtlich nur schwer in Kinder hineinversetzen, aber wir hatten keine Wahl, da sie die einzige Lehrerin war, die dritte Klassen unterrichtete. Also wechselten wir die Schule.

Das Jahr darauf rief einer der Schulpsychologen an. "Wissen Sie eigentlich, daß Ihr Sohn in der Pause auf dem Schulhof mit den Mädchen spielt?" Ich dachte mir: "Und wem soll das schaden? Mädchen sind auch nur Menschen und warum sollte es so schlimm sein, daß er mit ihnen spielen will?"

Der Schulpsychologe fuhr fort: "Man hat Ihren Sohn sagen hören, er wolle ein Mädchen sein".

"Und was würden Sie mir jetzt zu tun raten?" fragte ich.

"Ja nun, fördern Sie das nicht noch", war seine Antwort. "Mit zehn weiß man noch überhaupt nichts über die spätere sexuelle Orientierung". Später sprach ich Daniel auf diese Unterredung an, aber er wich dem Thema aus.

Als Daniel in der achten Klasse war, bestellten mich der Schulpsychologe und die Krankenpflegerin zu einem Gespräch.

"Ihr Sohn braucht Behandlung", empfahlen sie mir.

"Warum das denn?"

"Weil er weint, wenn die anderen Kinder ihn hänseln".

Für mich klang das so, als ob sie die Symptome bekämpfen wollten, nicht jedoch die Krankheit. Ich schloß daraus, daß sie Daniel behandeln wollten, um sein Verhalten zu verändern, da sie gegenüber den Kindern, die ihn hänselten, machtlos waren. Sie kamen nicht mit der Sprache heraus, daß sie dachten, er sei schwul, aber sie ließen es mehrfach anklingen.

Als ich nachfragte, ob sie mir einen Therapeuten empfehlen könnten, wußten sie auch von keinem, und auch das Bezirksschulamt hatte keine solchen Fachkräfte in seinen Reihen.

 

* . * . * . * . *

 

Als ich nach Danielles erstem Termin mit dem Endokrinologen ins Gespräch kam, war ich angenehm überrascht, daß er Danielle gegenüber so aufgeschlossen war, obwohl er bisher wenige Transsexuelle gesehen hatte, die so jung wie Danielle waren. Er stellte ein Rezept über Hormone aus und nahm ihr Blut für Laboruntersuchungen ab. Danielle war überglücklich, diese Etappe gemeistert zu haben. Im Wartezimmer traf ich auf zwei Menschen, die ich vorher bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe kennengelernt hatte, die von Danielles weiblicher Erscheinung tief beeindruckt waren. Solche Komplimente trieben mir üblicherweise die Tränen in die Augen, aber ich versuchte, sie zu unterdrücken, weil ich nicht vor Danielle weinen und ihr Sorgen bereiten wollte.

Nach dem Arztbesuch gingen wir zu unserer neuen Wohnung, um den Mietvertrag zu unterschreiben, und dann zur Apotheke. Als ich zu Danielle sagte "Jetzt reicht's mir aber für heute", warf ich einen Blick auf die Tankuhr, die kurz über Null pendelte.

Im Ganzen war es ein guter Tag, aber nach einer Schulanmeldung, verschiedenen Terminen, Formularen, größeren Geldbeträgen und Entscheidungen war ich emotional am Ende. An der Tankstelle ging ich zur Telefonzelle, um einen Anruf zu erwidern, während Danielle die Zapfsäule bediente. Als ich aus dem Auto gesprungen war, stellte ich fest, daß ich die Schlüssel drinnen eingesperrt hatte. Das war mir nun endgültig zuviel. Ich setzte mich hinter dem Tankstellenhäuschen in ein Blumenbeet und weinte und weinte. Arme Danielle! Das Tankstellenpersonal versuchte vergeblich, das Auto aufzubrechen, während sie mir verstohlene Blicke zuwarfen und sich fragten, ob ich völlig den Verstand verloren hätte. Danielle hingegen behielt einen kühlen Kopf. Sie rief beim Automobilklub an und kurz darauf war ein Mechaniker zur Stelle, der uns die Autotür wieder öffnete. In der Zwischenzeit hatte ich mich auch wieder beruhigt, und wir gingen noch Danielles Hormonrezept einlösen -- Hormone von ironischerweise gerade jener Art, die ich gerade unter Kontrolle zu halten versuchte. Obwohl man uns gesagt hatte, daß die Einnahme von Hormonen keine sofortige Wirkung hätte, wollte Danielle so bald wie möglich damit anfangen. Oft haben wir seither über mein Verhalten gelacht, wie ich da heulend in diesem Blumenbeet hinter der Tankstelle saß. Die Souveränität, mit der Danielle mit einer schwierigen Situation und einer Mutter nahe dem Nervenzusammenbruch fertig wurde, war ein Zeichen ihrer Reife.

Das nächste Problem, das einer Lösung harrte, war Danielles leerer BH. Heranwachsende Mädchen nehmen oft Taschentücher als Füllmaterial und es gab Prothesen, wie sie Frauen nach einer Mastektomie verwenden. Aber Danielle brauchte etwas genau dazwischen. Sogar stark gepolsterte BHs waren nicht voll genug, um an ihr gut auszusehen. Wir experimentierten mit einigen Eigenbaulösungen herum wie Schulterpolstern, die wir zurechtschnitten, aber Danielle hatte das Gefühl, daß diese nicht echt genug aussähen und auffielen. Sie hatte das Gefühl, daß die Menschen nur ihre Brüste taxierten, wo immer sie sich aufhielt.

Was hatte sich bei anderen im täglichen Gebrauch bewährt? Bei meinem ersten Besuch bei der Selbsthilfegruppe Neutral Corner sprach ich zwei Personen an, die mir zugänglich schienen, wie sie ihre BHs polsterten. Ihnen war klar, daß die Frage sehr ernstgemeint war, und halfen mir sehr viel weiter. Die Polster heißen Pads und es gibt sie von verschiedenen Herstellern. Die beiden favorisierten verschiedene Ausführungen. Da gute Pads nicht billig und nicht überall erhältlich sind, erklärten sich die beiden bereit, sich mit Danielle zu treffen und ihr zu zeigen, was sie unter ihrer Unterwäsche trugen. Also lud ich sie ein paar Tage später zum Kaffee ein. Die eine Person kam als sehr gutaussehende, reifere Frau, die andere trug einen Herrenanzug mit weißem Hemd und Schlips und brachte ihre Unterwäsche in einer Schachtel mit. Das ganze Geschehen war von einer gewissen Komik, so daß es mir schwerfiel, mir ein Kichern zu verkneifen. Zwei erwachsene Männer, einer als Frau gekleidet und der andere als Geschäftsmann weihten jemanden, der wie ein junges Mädchen aussah, in die kleinen, feinen Unterschiede zwischen verschiedenen Ausführungen von Brustpolstern ein. Aber natürlich wußte ich, daß das für Danielle ein durchaus ernstes Thema war.

Die eine Version bestand aus Silikon und sah einer Brustprothese sehr ähnlich. Sie fühlte sich sehr natürlich an. Die andere Variante war ein Täschchen in Brustform, das mit kleinen runden Sandbeuteln befüllt wurde. Die Form und Größe konnte durch Zugabe und Wegnahme dieser kleinen Beutel verändert werden. Diese Ausführung nannte sich "Bosom Buddies", und für sie entschieden wir uns, da sie uns haltbarer erschien, was bei einer aktiven Jugendlichen ja durchaus von Vorteil sein konnte. Nach einigem Herumstöbern fanden wir ein Paar für gut 100 Dollar. Das kauften wir dann.

Als Danielle begann, "Bosom Buddies" zu tragen, fühlte sie sich zunächst unsicher, da die Beutel sich etwas bewegten. Sie hatte Angst, daß sie sich aus ihrem BH befreien könnten und irgendwoanders hinrutschen, wo sie durchaus fehl am Platz wahren. Um dem vorzubeugen, nähte ich Druckknöpfe an die Beutel und die Gegenstücke in ihre BHs. Diese Methode funktioniert nun schon zwei Jahre lang zufriedenstellend. Als die Hormone zu wirken begannen und Danielle selbst kleine, zarte Brüste bekam, nahm sie einfach ein paar Sandsäckchen heraus. Die einzige Schwierigkeit gab es beim Schwimmengehen, da Danielle nur ein Paar Brustpolster hatte und es mehrere Stunden dauerte, bis sie wieder trocken waren.

Ich erinnere mich dankbar an die Hilfe, die uns die beiden Transvestiten zuteil werden ließen. Die Situation war zwar komisch, aber für uns sehr hilfreich.

Danielle trug enge Miederhöschen, manchmal zwei oder drei übereinander, um sicherzugehen, daß verborgene Körperteile auch verborgen blieben. Man nennt dies "Tucking" (dieser Ausdruck ist in der amerikanischen Transvestiten- und Transsexuellenszene verbreitet und hat auch teilweise in Deutschland Eingang gefunden, Anm. d. Übers.). Und die Hormone halfen auch, daß die Situation nicht außer Kontrolle geriet.

Kurz bevor die Schule begann, riefen die Eltern einer transsexuellen Jugendlichen im selben Alter wie Danielle bei uns an, um uns zu sich nach Hause einzuladen, aber ich ging alleine hin, um Danielle vor eventuellen unvorhergesehenen Schwierigkeiten zu bewahren.

Laura und ihre Eltern interessierten sich sehr für Danielle und Laura war sehr enttäuscht, daß Danielle nicht mitgekommen war. Ihre Mutter und ihr Stiefvater schienen sehr erfreut, sich mit mir über die Erziehung unserer außergewöhnlichen Kinder austauschen zu können. Wir waren uns einig, daß es für uns keinen Grund gäbe, uns schuldig zu fühlen. Lauras Mutter hatte sich ein Mädchen gewünscht, wußte aber, daß dieser unschuldige Wunsch bestimmt kein Grund dafür war, daß sich ihr Sohn als Mädchen fühlte. Ich hingegen war immer darüber froh, Söhne gehabt zu haben.

Im Laufe unseres Gesprächs stellte sich heraus, daß Lauras Lieblingsfilm "Cinderella" war, während Danielle gerne "Pretty Woman" sah. In beiden Filmen geht es um Frauen, die eine neue Identität annehmen. Laura hatte versucht, ihren Geschlechtswechsel an ihrer alten High School durchzuziehen, aber als das schiefging, wechselte sie auf dieselbe Schule, die Danielle jetzt besuchen würde. Als es ihr dort auch nicht sehr gut ging, beschlossen sie und ihre Eltern, sie zu Hause zu unterrichten. Sie erklärte bereitwillig, welche körperlichen Veränderungen die Hormone an ihr bewirkt hätten -- größere Brüste, die Umverteilung von Körperfett, keine Erektionen mehr. Zum Glück hatte sie nie einen ausgeprägten Bartwuchs.

Es war beruhigend für mich, daß ihre Eltern die Situation gelassen hinnahmen. Man konnte, wenn man sie sah, fast glauben, es sei dies das Einfachste auf der Welt. In der Transgender-Szene engagiert waren sie nicht.

Als ich wieder nach Hause kam und Danielle Lauras Telefonnummer gab, rief sie dort sofort an. Sie unterhielten sich stundenlang an diesem Tag und sind auch heute noch in Kontakt. Sie tauschten Kleidung aus, Schminktips und Freunde. Laura hatte eine Sammlung von Barbiepuppen, die die beiden beschäftigt hielt. Laura hatte blonde Haare, eine tiefe, sexy Stimme und sah aus wie ein Filmstar. Und sie liebte es, jede Woche eine neue Haarfarbe und Frisur auszuprobieren. Sie brauchte mehr Aufmerksamkeit und Betriebsamkeit als Danielle und wußte immer, wo etwas los war und wollte genau da hin. Sie war auch emotionaler als Danielle und erzählte Leuten eher von ihrer Transsexualität, aber outete Danielle nie -- das heißt, sie erzählte nicht, daß auch Danielle transsexuell war. Manchmal stellte ich mir die Frage, ob der Kontakt zu Laura das Beste für Danielle war, aber dachte dann, daß Danielle eventuell gut für Laura sei. Die beiden schlossen eine tiefe Freundschaft, weil sie eine sehr seltene Erfahrung miteinander teilten.

Sobald Danielle ihren Führerschein hatte, gingen Laura und sie jedes Wochenende aus. Sie gingen auf Entdeckungsreise in den Cafés in den schwuleren Stadtbezirken, aber Danielle wurde dessen bald müde, weil die Männer dort keine Augen für sie hatten. Sie besuchten auch Nachtclubs in Mexiko, wo Danielle den Türsteher becircte, damit er sie ohne Ausweiskontrolle hineinließ.

Ich besuchte Lauras Eltern nicht oft, aber wir wußten gegenseitig viel von unseren Kindern, und wir wußten, wo wir anrufen konnten, wenn sie abends spät nach Hause kamen. Wenn Danielle zu lange wegblieb, hoffte ich immer nur, daß sie ihren Spaß hatte, denn den hatte sie sich so dringend verdient. Die Mädels liebten es, ihre Abende entweder bei Laura oder bei uns zu verbringen, damit sie unter sich waren. Ich hoffte immer, daß sie die Polizei nicht aufgriff, denn in unserer Stadt gibt es ein Gesetz, das es verbot, beim Begehen einer Ordnungswidrigkeit in Betrugsabsicht die Kleidung des Gegengeschlechts zu tragen (in den USA hat auch der Stadtrat legislative Gewalt, Anm. d. Übers.). Die meisten Gefängnisse legen präoperative Transsexuelle mit den Menschen zusammen, die dieselben Genitalien besitzen, was natürlich hieß, daß Danielle und Laura bei den Männern geendet wären.

Danielle hatte nie das Gefühl, eine Selbsthilfegruppe zu brauchen wie ich, aber ab und zu kamen Laura und sie mit, um mir Gesellschaft zu leisten und zu zeigen, wie gut es ihnen ging. Sie genossen die Komplimente, die sie bekamen.

Ich hatte das Gefühl, daß Laura von ihren Eltern übermäßig verwöhnt würde und stellte dann fest, daß ich mit Danielle dasselbe tat. Einmal gingen wir für Danielle Schmuck für ihren Abschlußball einkaufen. Ihr gefiel eine Zusammenstellung, die 80 Dollar kostete und ich hatte schon beschlossen, daß sie das auch verdiente. Nachher fand sie andere Schmuckstücke, die sehr ähnlich aussahen, aber nur 20 Dollar kosteten. Die kauften wir dann. Als wir den Laden verließen, sagte Danielle: "Die 60 Dollar, die wir jetzt gespart haben, geben wir jetzt aus!" Das taten wir zwar nicht, aber ich dachte mir im stillen: "Das ist so typisch Frau!"

Das Schicksal hatte sowohl Danielle als auch Laura schlechte Karten gegeben, aber wir als ihre Eltern wollten es ihnen so leicht wie möglich machen.

* . * . * . * . *

Wir fanden eine ordentliche Wohnung nahe der neuen Schule und begannen mit den Umzugsarbeiten. Das ging schnell von der Hand; wir waren schließlich geübt darin.

Aber dieses Mal war es anders. Ich mußte leise über mich selbst lachen, als ich merkte, wie sich meine Einstellung zu meiner Tochter verändert hatte. Bei den letzten zwei Umzügen, als Ben und David schon aus dem Haus waren, ließ ich meinen jüngsten Sohn die schweren Sachen tragen und übertrug ihm die schwierigen Aufgaben. Nun wollte ich meine neue Tochter immer warnen, nur ja nicht zu schwer zu heben und schleppte selbst mehr, um sie zu schonen. Bis dahin waren mir diese geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen nicht bewußt, aber nun fielen sie mir ab und zu auf. Danielle hingegen fühlte sich stark wie immer und war genauso eifrig bei der Sache, um ihren Teil beizutragen und mir die schwersten Aufgaben abzunehmen. Sie wollte, daß wir den Umzug selber schafften, ohne die Hilfe von Männern. Die Geisteshaltung von hilflosen, schutzlosen Frauen war ihr völlig fremd, denn sie wollte eine unabhängige Frau sein. Ich war auf genau diese Einstellung immer sehr stolz, aber an dem Tag hätte ich zu ein wenig Hilfestellung nicht nein gesagt.

Ein anderer Punkt, in dem ich meine Gefühle gegenüber meiner neuen Tochter überdenken mußte, war, daß ich nicht wollte, daß sie allein nach Mexiko fuhr, obwohl ich das ihren Brüdern im gleichen Alter gestattet hatte.

Als der erste Tag des neuen Schuljahrs nahte, wurde ich etwas nervös. Einer der Gründe, warum wir diese neue Schule gewählt hatten war, daß die Schüler jederzeit das Schulgelände verlassen konnten. Dadurch konnte Danielle immer nach Hause kommen, wenn es ihr nicht gut ging. Sie war immer noch sehr befangen und dachte, sie müßte in jeder Mittagspause nach Hause kommen und sich rasieren. In ihrer Kleidung war sie jedoch völlig ungehemmt: sie war immer nach dem letzten Trend gekleidet und ihre Kleidung bestärkte ihr Selbstwertgefühl enorm. Bezüglich ihrer Stimme war sie sehr unsicher. Zwar hatte sie mit der Hormonbehandlung vor dem Stimmbruch begonnen, so daß sie gute Chancen hatte, sich eine weibliche Stimme zu erhalten. Ihre Stimme war nach meinen Ohren im unteren Bereich normaler Frauenstimmen und klang völlig akzeptabel, aber Danielle machte sich darüber große Sorgen.

Am Ende dieses ersten Schultages war ich froh, als sie mir sagte, daß alles gutgegangen war. Sie war glücklich mit ihrer neuen Umgebung und niemand hatte herausbekommen, daß sie das Jahr vorher noch als Junge zur Schule gegangen war. Zwar hatte sie die Möglichkeit, die Toilette der Schulkrankenpflegerin zu benutzen, doch wollte sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ging zur Mädchentoilette. Falls es jemals deswegen Probleme geben würde, konnte sie mich jederzeit auf dem Handy anrufen, und das beruhigte sie. Da ich selbständig bin, teile ich mir meine Arbeitszeit selbst ein und kann auch meinen Arbeitsplatz jederzeit verlassen. Sie versuchte, mir keine Sorgen zu machen, aber einige Male ging ich nach Hause, um bei ihr sein zu können. Sie brauchte immer noch viel Zuwendung und Zärtlichkeit. Die Hormone schienen eine emotionale Berg- und Talfahrt zu verursachen. An manchen Tagen weinte sie nur. Ich sagte ihr: "Manchmal weinen Frauen eben. Manchmal müssen wir die Tränen eben einfach rauslassen, bevor es uns besser geht".

Einmal rief sie mich an, daß sie eher von einem Schul-Tanztee nach Hause käme, weil sie einen Pickel auf der Nase hätte. Das nächste Mal tanzte sie in ihrem neuen selbstgenähten Kleid, bis der Hausmeister die Lichter löschte. Ich war froh, daß sie die Möglichkeit hatte, ein Mädchen zu sein, mit Pickeln und allem Drumherum. Wir gingen oft zu Country & Western-Tanzabenden und, als sie genügend Gleichaltrige kennengelernt hatte, ging sie oft zu Tanzabenden für Jugendliche. Als ich sie eines Abends abholte, sagte mir eine der anwesenden Erwachsenen, daß Danielle ihrer Meinung nach sehr charmant und erwachsen wirke. Viele teilten diese Meinung, und ich dachte immer: "Wenn ihr nur wüßtet!" Auf dem Heimweg erzählte sie mir von einer unangenehmen Begebenheit, die sich zugetragen hatte. "Ein paar ältere Mädchen zogen die jüngeren auf und äfften sie nach", sagte sie. "Sie zeigten mit dem Finger auf mich, während ich tanzte. Ich hörte auf und ging zu ihnen und sagte, daß ich es leid sei, daß sie uns alle dauernd veräppelten. Dann wurden sie richtig beleidigend und forderten mich auf, mit ihnen rauszugehen und zu raufen. Ich sagte, ich wollte das nicht. Ich hätte es nur gestrichen satt, daß sie mich dauernd aufzögen, nur weil ich besser tanzte als sie." Danielle dachte, daß sie sich gut verhalten hätte und daß die anderen Mädchen sich sattsam lächerlich gemacht hätten. Sie verließen den Saal unter Drohungen, ihr etwas anzutun oder sie gar umzubringen. Sie erklärte mir: "Fünfzehn Jahre habe ich diesen Zorn angestaut, weil mich die Leute auslachten. Das brach dann alles aus mir heraus und diese zwei Mädels bekamen es dann zu spüren." Ich war stolz auf sie, aber traurig, daß sie bisher so viel zu leiden hatte.

 

 

 Manchmal weinen Frauen eben.

 

* . * . * . * . *

Dienstlich mußte ich zweimal im Monat auswärts übernachten. Daniel hatte ich dann immer sich selbst überlassen, aber mit Danielle war es anders. Sie versicherte mir zwar immer, daß sie auch alleine zurechtkäme, aber ich wollte da sein, um sie zu beschützen. Wenn ich nicht da sein konnte, sprach ich mich mit Freunden ab, die ihr dann Gesellschaft leisteten.

Sie wollte so dringend ein Mädchenbett. Ich wußte bis dahin nicht, daß Betten Geschlechter hatten, aber trotz allem zogen wir los, um nach etwas Femininerem zu suchen. Wir fanden ein Einzel-Wasserbett, in dessen Kopfteil Spiegel und Regale integriert waren. Ich mußte zugeben, daß so ein Möbelstück nur in ein Mädchenzimmer gepaßt hätte. Als das Bett glücklich bei uns angelangt war, mühten wir uns vergeblich ab, es aufzubauen, so daß wir am Ende die Kröte schluckten und einen Mann zur Hilfe baten. Mein Neffe, der in Danielles Alter war, schickte ihr von einer Europareise eine wunderschöne mundgeblasene Glasvase, die sie auf das Kopfteil stellte. Danielle war von dieser Geste der Zuneigung und Akzeptanz sehr beeindruckt.

Das erste Jahr an der neuen Schule ging ohne nennenswerte Vorkommnisse vorüber und Danielles schulische Leistungen verbesserten sich drastisch. Ich war mir sicher, daß ich in Algebra Nachhilfe würde leisten müssen, aber sie kam von Anfang an alleine damit zurecht. Ihr Englisch und ihre Rechtschreibung verbesserten sich und auch in anderen Fächern stiegen ihre Leistungen sprunghaft an. Es war, als hätte jemand den Lichtschalter betätigt. Die Dinge ergaben auf einmal einen Sinn. Die Lehrer sprachen ihre Sprache. Jetzt konnte sie sich endlich auf die Schule und das Lernen konzentrieren, anstatt gegen eine übermächtige Last unerklärbarer Gefühle anzukämpfen.

Eines Tages traf ich einige von Danielles Lehrern in einem Café, bevor die Schule begann. Sie gratulierten mir herzlich dazu, wie ich meine Tochter erzogen hätte. Als sie mir erzählten, was für ein nettes junges Mädchen Danielle sei, mußte ich mir auf die Zunge beißen. Sie hätten sich nicht vorstellen können, welchen Ballast Danielle mit sich herumschleppte. Ich gewöhnte mich schließlich daran, die Komplimente entgegenzunehmen, ohne Danielles Geheimnis zu lüften.

Eigentlich wollte ich der ganzen Welt erzählen, wie wunderbar und schön dieses neue Wesen war, aber Danielle wollte nicht, daß alle davon wüßten; also behielt ich es für mich und sagte ihren Freunden und Lehrern und unseren Nachbarn kein Sterbenswörtchen. Neutral Corner war einer der Orte, wo ich meine Gefühle und meinen Stolz auf Danielles Leistungen offen zeigen konnte. Sie wußten, was für ein Erfolg das war, und ich wußte, sie würden es für sich behalten. Ich hoffte, daß das Bedürfnis, darüber zu sprechen, abnehmen würde -- bis heute vergeblich.

Ich hatte mir sehr viele Gedanken über den Sportunterricht gemacht, als ich eine neue High School für Danielle aussuchte. Mr. Hunter hatte empfohlen, daß wir uns vom Hausarzt ein Attest ausstellen lassen sollten, das sie zum Beispiel wegen eines Herzfehlers vom Sportunterricht dispensierte. Wir hatten zwar einen Verwandten, der Arzt war und der sich auch dazu bereiterklärte, aber es stellte sich heraus, daß das gar nicht nötig war. An dieser Schule beschränkte sich das Umkleiden für den Sportunterricht auf das Tragen von Turnschuhen. Und als ihr Selbstbewußtsein wuchs, begann Danielle sogar Spaß am Sportunterricht zu haben, der ihr bisher immer verhaßt war.

Über das Presidential Fitness Testing Program (in etwa äquivalent den Bundesjugendspielen, Anm. d. Übers.) sagte sie einmal: "Ich möchte mehr erreichen, als von den Mädchen vorausgesetzt wird. Ich glaube, ich betrüge ja ein wenig". Sie war immer noch dabei, ihre Geschlechtsrolle umzustellen und verglich ihre Leistungen eher mit denen der Jungen, obwohl sie ganz wie ein Mädchen aussah.

Das folgende Schuljahr wollte sie wieder an eine normale High School zurückwechseln und am regulären Sportunterricht teilnehmen, einschließlich des Umkleidens. Ich wollte sie vor möglichen Verlegenheiten oder Problemen bewahren, aber ich hielt mich wieder zurück und ließ sie alles versuchen, was sie sich zutraute. Ich wollte ihr nicht im Wege stehen oder sie wegen meiner Befürchtungen verrückt machen, aber der Gedanke, daß eine andere Mutter Danielles Geheimnis erfahren könnte, bereitete mir schlaflose Nächte. Ich wäre erleichterter gewesen, hätte das Schulamt erlaubt, daß sie Tanz statt Sport belegen oder sie gar vom Sportunterricht dispensiert werden könnte. Wir kamen schließlich überein, daß wir immer noch in einen anderen Stadtteil ziehen konnten, falls etwas ruchbar würde.

Wir informierten uns über die Duschvorschriften an den jeweiligen Schulen, bevor wir uns für eine entschieden. Das Duschen war dort freiwillig, da Eltern, die östlichen Religionen anhingen, es ihren Kindern nicht erlaubten, sich vor anderen Leuten nackt zu zeigen. Das ist übrigens eine der wenigen religiösen Regeln, die ich für sinnvoll erachte. Was mich angeht, ist es eine Barbarei, verlegenen Jugendlichen in verschiedenen Stadien der Pubertät zuzumuten, sich voreinander auszuziehen. Danielle trug ein Bustier über ihrem BH und ihre üblichen Miederhöschen, um ihr beim Umziehen genügend Schutz zu bieten.

Später in diesem Jahr meldete sie sich für die Leichtathletik-Leistungsgruppe an, um ihrem Körper etwas Gutes zu tun. Ich war wieder besorgt, daß sie bei Wettkämpfen zwischen Schulen entdeckt und ihr die Mitgliedschaft in der Mädchenmannschaft entzogen würde. Sie versuchte ihr Bestes, aber wegen der geballten Dosis an Hormonen verlor sie schon vor dem Ziel die Kraft. Wenn ich zu den Wettkämpfen ging, hörte ich anderen Müttern zu, welche Probleme sie mit ihren Kindern hatten, aber über Danielle sagte ich nichts. Ich wollte ihnen sagen, wie stolz ich auf meine einmalige, unglaubliche Tochter war, aber ich sagte nichts. Es schien mir vernünftig, daß ich ihre Trainerin aufklärte, so daß sie nicht aus allen Wolken fiele, sollten doch einmal Fragen aufkommen, aber nicht einmal das tat ich -- und Probleme gab es auch nicht.

Danielle bemerkte, daß manche von den anderen Mädchen in der Leichtathletikmannschaft auch keine größeren Brüste hatten als sie, aber dennoch trug sie weiterhin ihre Pads.

Nach zweijährigem Herumexperimentieren kristallisierten sich einige gangbare Varianten heraus, wie ein transsexuelles Kind mit dem Sportunterricht verfahren konnte. Die Schulbezirksärztin teilte mir mit, daß es in unserem Schulbezirk leicht sei, vom Sportunterricht entschuldigt zu werden. Ein Schüler mit gesundheitlichen Gebrechen, Geburtsfehlern oder sozialen Problemen konnte aus psychologischen Gründen dispensiert werden. Das hatte mir bei meinen ersten Nachfragen niemand gesagt. Unser Bezirk bietet auch die Möglichkeit, den Sportunterricht durch Vereinssport, zum Beispiel Schwimmen oder Fußball, zu ersetzen.

In ihrem zweiten High School-Jahr sang Danielle im Schulchor, wo die Schüler nicht nur musikalische Praxis sammeln konnten, sondern für die Semesterabschlußfeier auch Choreographien einstudierten. Das nötige Kostüm und die Schuhe kosteten 60 Dollar, die ich ihr widerwillig gab.

Als die Kostüme fertig waren, war Danielle fuchsteufelswild, weil das Kostüm für die Mädchen so knapp geschnitten war. Der Ausschnitt war tief, so daß es einseitig schulterfrei getragen werden mußte, und die Beine wurden von einem sehr kurzen Mini nur unzureichend bedeckt. Sie konnte weder ihren BH noch ihre Miederhöschen unter dem Kostüm anziehen und fühlte sich darin äußerst unwohl. Ein paar Zentimeter fehlender Stoff machten in diesem Zusammenhang eine Menge aus.

Ich fragte mich, warum dieser inkompetente Lehrer so ein unangebrachtes Kostüm überhaupt ausgesucht hatte, da es doch den Schulstatuten klar zuwiderlief. Zuerst wollte ich einen Streit mit der Schule anzetteln, aber Danielle wollte es selbst regeln und einfach den Schulchor ohne großes Aufhebens verlassen. Sie setzte sich durch, aber später kam ich auch noch zu meinem Recht, als weitere Vorfälle neue Fragen bezüglich des Schulchors aufwarfen.

Trotz mancher Schwierigkeiten kam Danielle in der Schule gut zurecht. In manchen Dingen war sie zwar sehr durchsetzungsfähig, aber eigentlich wollte sie jetzt einfach in Ruhe gelassen werden.

Ihr gutes Urteilsvermögen, welche Kämpfe sich überhaupt auszufechten lohnten, ließ sie sehr erwachsen wirken. Sie traf dabei eine gute Auswahl, ganz im Gegensatz zu mir, die ich mit meiner Sturheit kein Hindernis auslasse, das sich mir in den Weg stellt.

 

 

 

 

 


 

INTRO

TEIL I

TEIL III

TEIL IV

TEIL V

 


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